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Selbstständig oder angestellt? – Wie blöde Klischees unserer Gesellschaft schaden

von Dorle Weyers – wie immer ohne KI

Was braucht es, um einer Gruppe schaden zu dürfen? 
Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich wohl recht ungeniert, aber leider oft auch ungeschützt. Je negativer das öffentliche Bild von einer sozialen, ethnischen oder sonstigen Gruppe und je mehr sie als 'anders' etikettiert wird, desto weniger zeigen sich die meisten Menschen mit ihr solidarisch. Breitere Solidarität gegen ihre Diskriminierung und Schädigung ist dann frühestens im Extremfall zu 'befürchten' oder auch gar nicht.
Zugleich dienen negativ stigmatisierte Gruppen als perfekte Sündenböcke (aktuell Migrant:innen und Bürgergeldbeziehende). Auf ihre Kosten lässt sich wunderbar a) von echten Problemen und b) von Nutznießenden des Systems ablenken.*

Ja, das war jetzt ein steiler Start. Aber bestimmte Mechanismen funktionieren leider zuverlässig in nahezu allen Größenordnungen von grauenhaft bis ärgerlich und ungerecht. 

Daher greifen diese Mechanismen auch im (auf den ersten Blick ganz anderen) Fall der Selbstständigen. Gegenwärtig z. B. bei der von SPD und CDU/CSU beschlossenen Aktivrente. Wer die Regelaltersgrenze überschreitet, soll monatlich 2.000 Euro steuer- und progressionsfrei verdienen können — allerdings nur als Angestellte(r). Selbstständige will unsere Regierung von diesen Steuervorteilen ausschließen.

Bei hohem Verdienst bedeutet dieser Unterschied laut VGSD einen finanziellen Verlust von bis zu 919 Euro pro Monat, bei geringem Einkommen mitunter ein Abrutschen in die Grundsicherung. Gerecht sei dies laut Politik, da nur „aktive Arbeit“ belohnt werden solle und Selbstständige ja schon jetzt viel öfter länger arbeiten als Angestellte. — Bitte? Was will man uns damit sagen?

Woher kommt diese negative Einstellung zu Selbstständigen?

Nichts ist monokausal. So verweist meine persönliche Alltagsempirie auch hier auf viele Faktoren. Ein paar davon sind:

  • Betriebswirtschaftliche Ahnungslosigkeit und zu optimistische Vorstellungen von der Realität:
    Für Außenstehende werden Risiken, Ängste, zahlreiche Kosten, Flauten, Coronafolgen, Werbe- und Verwaltungsaufwand kaum sichtbar. Sie sind aber geeignet, den ökonomischen und persönlichen Gewinn erheblich zu schmälern.
  • Neid auf (oder Ärger über) die hohen Einkommen einiger Selbstständiger kombiniert mit Ignoranz der wirtschaftlichen Nöte vieler anderer Selbstständiger.
  • Neid auf Freiräume und Selbstbestimmung, die Selbstständige genießen können. Wenn sie es denn können. Plus Unwissenheit über die Nachteile der Selbstständigkeit.
  • Neid auf den Mut, es auf eigene Faust zu versuchen. Nicht alle sind begeistert vom Angestellten-Dasein, bevorzugen aber die Sicherheit. Wer dies aus Angst tut, gesteht es sich nicht immer ein, und verdrängte Angst braucht einen Anker.
  • Ausblendung ökonomischer Benachteiligung: Sehr hohe GKV-Beiträge sowie der Ausschluss von Mutterschutz, Inflationsausgleichsprämien und Aktivrente werden von außen selten als Diskriminierung wahrgenommen. Soll man sie jedoch selbst schlucken, bilden sie nur noch die sauren Sahnehäubchen, die einem irgendwann den Appetit auf die Selbstständigkeit verderben können.
  • Erleichterung, dass sich das eigene jahrzehntelange Leiden an Unternehmen oder Öffentlichem Dienst am Ende doch gelohnt hat.
  • Bei hinreichend schlechtem Charakter vereinzelt auch mal Schadenfreude.

Den Laden schmeißen oder hinschmeißen?

Ob die Selbstständigkeit mehr Vor- oder Nachteile hat, ist natürlich nur individuell zu entscheiden. Doch die Zahl der Gründungen sinkt, und das hat gute Gründe. Ebenso gibt es stets mehr Gründe, irgendwann doch noch den vor Jahren gegründeten Laden hinzuschmeißen, … sofern man es sich leisten kann, da: entweder jung genug für Bewerbungen oder im Lotto gewonnen oder genug gespart und/oder sparsam genug oder krank genug, so dass es eh nicht mehr lange so weitergeht.

Vor vielen Jahren habe ich mit Begeisterung: einen Gründungsratgeber geschrieben, das „Deutsche Gründerinnenforum“ mitgegründet, unsere Stadt mit einem Projekt zur Förderung von Existenzgründerinnen bereichert, in Verein und öffentlicher Einrichtung Beratung, Fortbildung und Vernetzung für Unternehmerinnen und Gründerinnen betrieben und mehr. Lange bevor die Politik das Thema puschte, war ich Selbstständigkeitsfan. Schon meine Eltern hatten ein Geschäft und arbeiteten darin, bis sie über 70 waren. Als ‚Geschäftskind‘ habe ich die Selbstständigkeit quasi mit der Muttermilch aufgesogen. Aber seitdem hat sich so vieles verändert, ist komplizierter, viel aufwändiger, teurer, nerviger, mitunter komplett neu und manches auch gefährlicher geworden. 

Heute würde ich daher allen, die weder masochistisch sind, noch sehr realistisch hohe Chancen auf ewig blendende Gesundheit, einen langfristig höchst beeindruckenden Gewinn haben, tendenziell von einer Existenzgründung abraten. Und wenn ihr schon länger selbstständig seid: Entscheidet früh genug, ob ihr nicht doch besser zurück geht ins nicht immer sichere, aber doch viel sicherere Angestelltenleben. Politisch gefördert und gewerkschaftlich gestärkt (= mit starker Lobby), lebt es sich oft leichter. Wenn die Nachteile der Selbstständigkeit im bisherigen Tempo weiter wachsen, wird sie sich für stets weniger Menschen lohnen.

Exkurs 
Kleine (vereinfachte) Kalkulations-Faustregel:
"Halbes Honorar für doppelte Zeit."

Von einem stattlichen Honorar von 200 € bleiben selbstständigen Dienstleister:innen nach Abzug von Steuern, Pflege- und Krankenversicherung sowie sparsam kalkulierten Betriebskosten im Schnitt, grob gerechnet und mit etwas Glück 100 € netto übrig. Bei einigen mehr, bei anderen noch weniger.
Von diesen 100 € ist dann allerdings noch die komplette Alterssicherung sowie ein Polster für schwere Zeiten aller Art zu finanzieren (zum Beispiel die Folgen von Corona, Krankheiten, KI etc.). Auch Urlaubs- oder 'Weihnachtsgeld' sowie spendable steuerfreie Extras wie die Inflationsausgleichsprämie müssten hier eigentlich noch einkalkuliert werden.

Bei der Arbeitszeit verhält es sich leider genau umgekehrt: Auf eine Stunde verkaufte Arbeit kommt schnell eine weitere Stunde unbezahlter Arbeit hinzu: für Verwaltung, Fortbildung, Vor- und Nachbereitungen, Konzepte, Akquise, Flops, Werbung, Kontaktpflege, Recherchen, Organisation und jede Menge Alltags-Kleinklein. (Auch hier gilt natürlich: mal mehr, und mal weniger.)

Unterm Strich schrumpft also ein aus Kundensicht vielleicht üppig wirkender Stundensatz von 200 € schnell auf 50 € pro tatsächlicher Arbeitsstunde.
Lagern wir mehr Tätigkeiten aus, steigen die Betriebskosten. Sparen wir an unserer Fortbildung oder straffen wir Kommunikation und Organisation, zahlen wir dafür nicht selten mit unzufriedener Kundschaft. Auch keine Werbung kostet Kunden. Kurz: Nichts ist umsonst auf dieser Welt! 

Fehlt noch die Alterssicherung: Um es Angestellten gleich zu tun, sollten dann eigentlich 20% vom Brutto-Einkommen (also vor Abzug von Einkommenssteuer und Krankenkasse) die fehlende gesetzliche Rentenversicherung ersetzen. Damit am Ende noch Geld übrig bleibt, rechnen wir hier mal mit nur 20% von 100€ (also nach Abzug von Steuern und Krankenkasse: =20 €) pus eigentlich viel zu sparsam mit weiteren 10 % (=10 €) für die fehlende Betriebsrente und die (für alle sinnvolle) zusätzliche private Alterssicherung. Da die einst stolzen 200 € nun bereits auf wundersame Weise zu ziemlich schlappen 20 € zur Finanzierung des kompletten täglichen Lebens (inklusive Urlaub) geschrumpft sind, muss die Alterssicherung im Notfall eben auch als warmes Polster für kalte Zeiten herhalten. Und sollte die zukünftige Aktivrente, tatsächlich (nur) für Angestellte gelten, muss auch dieser steuerliche Nachteil eigentlich heute schon durch's Honorar und noch mehr Alterssicherung kompensiert werden.

Wie sieht diese Rechnung dann erst bei Selbstständigen mit geringeren Stundensätzen aus? – Kein Wunder, dass viele Selbstständige nicht fürs Alter vorsorgen können, und: dass Vollzeit-Selbstständige einfach mehr arbeiten als Angestellte.

Für viele ist die hybride Kombination von 'hauptberuflich in Teilzeit angestellt und dann ordentlich als Selbstständige dazu verdienen' ideal. Aber leider trägt sie ebenso ideal, und absurder Weise gesetzlich gewollt, zur Aushöhlung unserer gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherungen bei. Diese gesetzliche Regelung schadet also unserem Gesundheitssystem und wird trotzdem seit Jahrzehnten nicht geändert.

Emotionale und ökonomische Kosten

Selbstständigkeit kann wirklich sehr, sehr schön sein. Und es kann ebenso viel Stress bedeuten: zu viel Arbeit, zu wenig Arbeit, Geschäftsschädigungen, unbezahlte Rechnungen, horrend steigende Mieten und andere Kosten, teils schlafraubende fiskalische Unklarheiten, stets neue gesetzliche (gern auch mal widersprüchliche) Auflagen, Abmahnmissbrauch, falsche Kund:innen, ewiges Verschiebungs-Hickhack, doofe Berater:innen und vieles mehr fressen — übrigens unbezahlt — Stunden, Tage, Wochen und Nerven. Mitunter atemberaubend hohe Beiträge zu Pflege- und Krankenversicherung können ebenso stressen wie die absolute Eigenverantwortlichkeit für jede einzelne Entscheidung, für die eigene und ggfs. familiäre Zukunft usw. An manchen Tagen wäre es schön, sich einfach mal krankmelden zu können, ohne finanziellen Verlust. 

Zudem birgt die Selbstständigkeit reichlich Risiken (=Stressfaktoren), die den meisten Angestellten und allen Beamt:innen entweder — pardon! — am Arsch vorbei gehen können, oder sie zumindest weniger drastisch treffen, da abgesicherter. Egal, wie gut es läuft: Unverhofft kommt oft — von eigenen Erkrankungen über Wirtschaftskrisen und Pandemien bis zu Innovationen wie KI, die im Nu ganze Geschäftsfelder und vielleicht auch deine ökonomische Existenz verwüsten. Und, liebe Geschlechtsgenossinnen, vielleicht gehört ihr leider zu dem weiblichen Drittel, das (Achtung: Tabu!) unter erheblichen Wechseljahrsbeschwerden leiden wird. Und falls ihr vorher noch Kinder bekommen wollt: Das Mutterschutzgesetz gilt (bislang) nur für schwangere und stillende Arbeitnehmerinnen, Auszubildende, Studentinnen und ihre Kinder.  

Vielen Selbstständigen ist ihre Selbstbestimmung lieb und teuer. Fast immer ist sie teuer erkauft. Die Politik gegenüber Selbstständigen erinnert mich manchmal an den Film ‚Vogelfrei‘ von Agnes Varda. Du willst dich nicht in unsere etablierten Systeme einfügen (=unterordnen)? Dann sieh zu, wie du klar kommst ohne Schutz und Sicherheit durch Zugehörigkeit. Die Rückfahrkarte ist nur begrenzt gültig.

Wer heute solidarisch ist, kann morgen profitieren

Ich liebe meinen Beruf und habe wunderbare Kund:innen. Es ist genial, wie viele tolle Menschen ich dank meiner Arbeit kennen lernen durfte und darf. Aber selbstständig zu sein, das macht mir unter diesen Bedingungen stets weniger Freude. Wer gehört schon gern zu einer oft übergangenen Gruppe, die gesellschaftlich und politisch kein Gehör findet, stets stärker ökonomisch benachteiligt wird und deren Leistungen für die Gesellschaft von der Gesellschaft kaum gesehen werden? Mich demotivert und empört das. Und dass kaum ein Hahn danach kräht finde ich traurig.

Was ist mit Ihnen? Finden Sie, dass Selbstständige fair und gerecht behandelt werden sollen? Dann können Sie immer öfter positiv darüber sprechen, was Selbstständige so alles zu unserer Gesellschaft beitragen: Von Ärztinnen über Läden und Paartherapeuten bis zu Zimmermann und -frau. Und zzt. können Sie z. B. die Petition ‚Aktivrente auch für Selbstständige‘ unterzeichnen. Dazu muss man nicht einmal für die Aktivrente sein, nur für Gerechtigkeit und gegen weitere Nachteile der Selbstständigkeit.

Und wenn Angestellte und Beamt:innen heute schon mit Selbstständigen solidarisch sind, werden sie auch morgen noch von vielen kraftvollen sozialen, kulinarischen, handwerklichen, medizinischen, kulturellen und anderen Angebote profitieren.

 

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* ad a): kaputt-vernachlässigte Infrastruktur, zunehmend ruiniertes Gesundheitssystem, Wohnungsnot, Klimawandel, explodierende Kosten für fast alles etc.;  
ad b): Subventionen für Banken, Autoindustrie, Familienstiftungen usw.

 

Sind Sie selbstständig? Dann lesen Sie hier, was wir alle für eine bessere Repräsentation der Selbstständige in Deutschland tun können. 

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