Forschend-entwickelnder Unterricht in den Naturwissenschaften

Auszüge aus der Publikation „Erleben, Entdecken, Experimentieren“, herausgegeben von der Stadt Münster (2001). Die Broschüre dokumentierte damals Projekte zur Förderung naturwissenschaftlicher Talente und Lernlust an mehreren kommunalen Schulen durch forschend-entwickelnden Unterricht und Projekte.

 

"Wer forscht fragt.

„Experimentieren ist: beobachten wie sich Stoffe verhalten, wie sie sich entwickeln. Experimentieren ist Versuche machen. Das, was man noch nicht weiß, das probiert man aus“, sagt die dreizehnjährige Schülerin. Der renommierte Mathematiker und Computerexperte Joseph Weizenbaum führt diesen Gedanken fort: „Ein physikalisches Experiment ist eine Frage, die man an die Natur stellt. Die muss man erst einmal entwerfen. Es geht darum, ein Leben lang diese Tugend zu entwickeln. (...) Es geht darum, eine Art Skepsis zu lehren. Damit Kinder und Jugendliche lernen zu fragen und zu hinterfragen. ... Die Kunst zu interpretieren, ist die Kunst, kritisch zu denken“.

Der Natur und den Dingen auf den Grund zu gehen, ist eine zentrale Idee des Projekts 'Erleben, Entdecken, Experimentieren'. „Es geht ja darum, nicht einfach nachzuvollziehen, was andere machen, sondern etwas Neus zu machen. Bei Unterrichts-Versuchen wissen die Kinder, dass die Hypothesen in der Regel auch erfüllt werden. Da ist die Gefahr groß, nicht mehr zu fragen.“

Damit kindlicher Wissensdrang und Initiative sich entfalten können, muss erwachsenes „Besserwissen“ sich zurückhalten. Ihr eigenes Denken führt sie zu anderen und zu mehr Fragen als fertige Erklärungen und Schulbuchlektionen. Wenn sie Raum, Material und Möglichkeiten dazu erhalten, hinterfragen Kinder eher, was sie sehen. Um die eigenen Fragen zu beantworten, schauen sie unter Oberflächen, erkunden und verstehen schließlich, warum die Glühlampe Licht gibt, was überhaupt Licht ist, wie sie messen, ob das Futter ihrer Katze Zucker enthält, warum der Schulteich verschlammen kann, dass Bienen die Welt mit anderen Augen und in anderen Farben sehen als Menschen, und dass vieles für unsere Augen unsichtbar ist.

Dabei muss es nicht immer gleich die wissenschaftliche Hypothese sein. Eine normale Vermutung genügt Kindern durchaus als Ausgangspunkt für Experimente.

Auch der Umgang mit dem Computer ist hierfür prädestiniert. In der Ag lernen die Mädchen „selbständig zu arbeiten und sich die Sachen zu erschließen, nach Lösungen zu suchen, nicht alles zu erfragen, sondern selbst herumprobieren und zum Ziel kommen. – Und wenn nicht, ist das ja auch nicht soo schlimm, es steht ja kein Druck dahinter“."

(–> Forschend-entwickelnder Unterricht heißt: Lösungswege selbst entdecken.)

"Vom Unterricht zur Arbeitsgruppe

„Chemie ist die Lehre von Stoffen, Stoffeigenschaften und -veränderungen.“ So steht es im Lehrbuch. In den Worten von 13-jährigen klingt Chemie dann so: “Das sind Experimente, Stoffe entdecken, experimentieren mit Stoffen, die man aus dem Alltag nicht so kennt, und erleben wie die sich dann verändern, z. B. durch Vermischung, Erhitzen, Abkühlen.“

Beide Definitionen verdeutlichen den Unterschied zwischen Unterricht und Arbeitsgruppe. Was die Unterrichts-Definition schnell, kühl, kompakt und korrekt serviert, wird „selbstgemacht“ zur anschaulichen Suchbewegung, die vom Entdecken, Experimentieren und Erleben erzählt. Sie beschreibt keine fertige „Lehre“, sondern einen Prozess, der mit Nase und Augen beginnt und zu Erkenntnis führt.

Vom Erleben zur Erkenntnis

Der Biologielehrer formuliert es so: „Von der ersten Beobachtung zur Untersuchung der Hypothesen zu kommen, und das mit Mitteln, die die Kinder sich selbst suchen – wenn auch mit fachlicher Unterstützung – das gelingt in der Schule sonst sehr selten. Dieser Anteil sollte auch im Unterricht größer sein. Sonst geht es immer darum, Fragen sehr schnell zu lösen.“

Mit dem Experimentieren lernen die Kinder nicht nur Fragen zu stellen, sondern auch, Wege zu den Antworten zu finden. Das benötigt Zeit, und die ist in der Schule meist knapp. Weil die Projektgruppen freiwillig angeboten und angenommen werden, steht hier auf einmal „neue“, nicht verplante, lehrplanfreie Zeit zur Verfügung. Je offener die Gruppen arbeiten, desto freier kann Zeit genutzt werden für das, was die Beteiligten wirklich interessiert. Und das eigene Interesse bietet wiederum die beste Motivation um zu erlernen, was im Leben alltäglich gefragt ist: Probleme kompetent zu lösen."

(–> Forschend-entwickelnder Unterricht heißt: Fragen finden.) 

"Naturwissenschaft lernen

„Was ist guter Physikunterricht?“ fragte 1997 Uwe Hericks in „Lernmethoden Lehrmethoden“ (: 85ff) und antwortet selbst: „mehr als der Erwerb isolierter Kenntnisse und Fertigkeiten, wie sie etwa im Rahmen schulischer Leistungskontrollen abgefragt werden können, (...) Physiklernen bedeutet vielmehr die Veränderung von Kompetenz. Damit ist gemeint, dass physikalische Konzepte in Konkurrenz treten zu alltagssprachlichen Erklärungsmustern (z. B. dass ein bewegtes Ding Kraft oder Schwung hat ...). Um physikalische Inhalte und Konzepte zu lernen, bedarf es der Auseinandersetzung mit ihnen, ... um bestimmte Ausschnitte der Wiklichkeit zu erklären.“

Stattfinden kann diese Auseinandersetzung im 45-Minuten-Takt des Unterrichts nur sehr begrenzt. Die Arbeitsgruppen des Projekts „Erleben, Entdecken, Experimentieren“ ergänzen ihn deshalb sinnvoll, sinnlich und praktisch. Hier entwickeln Schülerinnen und Schüler ein anderes Verständnis für das jeweilige Fach."

(–> Forschend-entdeckender Unterrichtheißt: die Zeit ausdehnen.)

"Forschen lernen – Können lernen

Naturwissenschaft lernen heißt auch: forschen lernen. Dazu gehören zahlreiche motorische und kognitive Fähigkeiten: beobachten, Fragen stellen, Filterpapier falten, Schaltungen entwickeln, löten, Apparaturen zusammenbauen, mit Chemikalien umgehen, sie in Reagenzgläser füllen, mischen, erhitzen, destillieren, beobachten, mikroskopieren, messen, vergleichen, protokollieren, auswerten, präsentieren, zahlreiche Fachmethoden anwenden und vieles mehr.

Forschungsfördernde Eigenschaften, die hier geübt werden, sind neben analytischem Denken und intelligenten Ideen auch Geduld, Frustrationstoleranz und Präzision, Teamarbeit und Selbständigkeit, Selbstsicherheit und Rücksichtnahme, eigenwilliges Ergründen und wechselseitige Anregung.

Das gute Gefühl der eigenen Kompetenz neigt stets zur Expansion. Wer die Erfahrung macht, etwas zu können, fühlt sich auch anderen Anforderungen besser gewachsen – und mit dem sicheren Gefühl wachsen auch die realen Fähigkeiten. Kaum etwas lähmt das Lernen so stark wie die Angst zu versagen. Und kaum etwas stärkt das Lernen so wie Neugier, Offenheit, Zuversicht und Selbstvertrauen."

(–> Forschend-entdeckender Unterricht heißt: Schlüsslequalifikationen entwickeln.)

"Staunen lernen

„Das Staunen kann den Weg zur Rationalität öffnen“, schrieb Lutz Fiesser 1998 in der Einleitung zu seiner Ausstellung „Phänomenta“, die Kindern und Erwachsenen in Flensburg naturwissenschaftliche Phänomene nahe bringt.

In den Schul-Projekte gibt es viele Gelegenheiten zum Staunen: „Die größte Freude für die Kinder und für mich ist es, wenn so ein Aha-Erlebnis da ist: Das erste Erlebnis ist z.B. einen Wasserfloh unter dem Mikroskop zu sehen: Der lebt ja, der tut was. Das zweite ist dann, dass man mit relativ einfachen Mitteln den Herzschlag messen, zählen und daraus auch Schlüsse ziehen kann. Das ist das Verblüffende. Dann haben sie gesehen, der Herzschlag nimmt um das Doppelte zu, wenn er in belastetem Wasser ist. Das war noch lange nicht das Ergebnis, die haben noch sehr viel mehr Sachen gemacht. Aber das ist das Erlebnis. Dann strahlen die Augen. Dann sehen sie, das hat jetzt geklappt.“

Die Kinder und Jugendlichen können staunen und staunen lassen. Sie selbst lehren ihre Lehrkräfte das Wundern: über neue Experimente, verrückte Ideen und eigenwillige Denkweisen. Denn „das Spannende an den Naturwissenschaften, ist das Unvorhergesehene“. Darin sind sich die im Projekt engagierten Lehrkräfte einig. „Die Kinder haben Ideen, auf die ich nie käme. Und oft passiert dann wirklich etwas. Oder hätten Sie gewusst, dass das kräftig gelbe Kaliumthiocyanat durch Erhitzen blau wird?“ Der Spaß am eigenen Staunen ist der begeisterten Lehrerin anzusehen. Leuchtende Augen bekommen nicht nur Kinder.

(–> Forschend-entwickelnder Unterricht heißt: mehr Freude am Lehren und Lernen.)

Begabung beginnt mit Interesse und Neugier

Phänomene zu sehen und sie ergründen zu wollen, ist nicht selbstverständlich. Und nicht jedes Kind ist an Naturwissenschaften interessiert. Aber „In der siebten Klasse reißen sich die Schülerinnen und Schüler noch darum, wer vorne den Versuch machen darf, da muss ich eine Liste machen und wehe, ich vergesse einen. Und in der Neunten: ‚Null Bock‘. Die Kleinen haben noch ein ganz kribbeliges Gefühl für Naturwissenschaften. Entweder greife ich dieses Interesse auf und erhalte es lebendig, dann profitieren sie auch später noch davon. Aber wenn es nicht früh genug passiert, ist in der Neun und Zehn nicht mehr viel los. Dann ist es nicht mehr cool, ein Experiment zu machen“. Diese Erfahrung machen nicht nur die Münsterschen Lehrkräfte.

In Folge der TIMSS-Ergebnisse (Fußnote zur TIMSS) macht die Überlegung, frühzeitig Naturwissenschaften zu unterrichten, in Deutschland verstärkt Schule. Bereits Jahrzehnte zuvor hatten verschiedene Studien beispielsweise zum Physikunterricht belegt, „dass die ursprüngliche Begeisterung und das starke Interesse etwa im 7. Schuljahr deutlich zurückgehen“ (Berge/Duit 2000: 5). Wer rechtzeitig an das „naturwissenschaftliche Kribbeln“ der Kinder anknüpft, erleichtert ihnen den Start. Die „Forscherwerkstatt“ der Hamburger Grundschule Wegenkamp beginnt deshalb bereits bei den Sechs- bis Zwölfjährigen. Spielerisch-forschend bietet sie den Kindern Gelegenheit, die Welt aktiv zu begreifen und zu verstehen. Viele Interessen können dabei erst einmal reifen."

(–> Forschend-entwickelnder Unterricht heißt: Talenten Raum zu geben.)

"Wenn die Dinge wandern

In der Schule etwas herzustellen, das man gerne mit nach Hause nimmt, ist ein weiteres Plus des Projekts. Ob Kristalle, Glasperlen, Shampoo, Slime oder Parfüm – Die Dinge selbst zu produzieren, „die man ja eigentlich im Geschäft kaufen müsste“, hat einen besonderen Reiz. Schule wird hier erstaunlich alltagstauglich und äußerst nützlich erfahren.

Zugleich unterwandern die Gegenstände die Grenzen zwischen dem Zuhause und der Schule. Besonders deutlich wird dies in der Foto-Ag: Zunächst eröffnet die Schule den Zugang zum neuen Medium: Die Schülerinnen dürfen die frisch gekauften digitalen Kameras mit nach Hause nehmen. Ein paar Tage später finden die Fotos von Familie, Freundinnen und Ponyhof mit ihnen den Weg zurück in die Schule. Hier dienen sie wiederum als digitales Lernmaterial, werden verfremdet, gefiltert, kombiniert, verfeinert und verzerrt um schließlich als beeindruckender Ausdruck des eigenen Könnens wieder ins Privatleben zurück zu wandern.

So erfüllen Schulen ganz praktisch und sach- bzw. dinglich den Anspruch, sich dem außerschulischen Leben zu öffnen.

Offenheit

Im Idealfall hat die Werkstatt offene Türen, fließende Grenzen und flexible Möglichkeiten. Die jungen Forscherinnen und Forscher kommen, arbeiten, gehen, nehmen am liebsten die Früchte ihrer Arbeit mit nach Hause und präsentieren sie anderen. So offen das Projekt nach außen hin ist, so offen ist auch das, was drinnen geschieht."

(–> Forschend-entwickelnder Unterricht heißt: Schulen fürs Leben zu öffnen.)

"Planen, probieren, Pannen zulassen

Der Reiz, etwas auszuprobieren, bedarf der Möglichkeit zu "scheitern". Zum Experimentieren gehören auch Geduld und Rückschläge. Erst das Risiko ermöglicht den experimentellen Erfolg. Denn risikofreie Zonen sind geprägt von zuviel Vorsicht, Befürchtungen und Kontrolle. Sie schränken ein und nehmen den Kindern die Chance, selbst verantwortlich zu handeln. Die Eigenverantwortlichkeit der Schülerinnen und Schüler zählt wohl zu den faszinierendsten Seiten der Münsterschen Projektgruppen. Keine Lehrkraft kann 30 Kinder so gut kontrollieren und schützen wie ihre Eigenverantwortlichkeit.

Fehler verlieren auf diese Weise ihre in der Schule sonst so bedrohliche Bedeutung. Sie werden normal."

( –> Forschend-entdeckender Unterricht heißt: Eigenverantwortlichkeit und Scheitern wagen.)

"Die Freude am Verstehen – Lernen als Aneignung

Wer in der Ag lernt, sich Umweltphänomene weitgehend selbständig zu erklären, betreibt damit ein wesentliches Stück „Weltaneignung“. Phänomene zu verstehen, kann eine phänomenale Erfahrung sein. Es ist der Ausgangspunkt, kausale Zusammenhänge auf weitere Beobachtungen zu übertragen."

(–> Forschend-entwickelnder Unterricht heißt: Verstehen lernen.)

"Lehrer sind auch Menschen

Wenn eine Gruppe Elfjähriger erzählt, ob ihre Lehrerin in der Ag anders ist als im Unterricht, klingt das z. B.: so: „Vom Persönlichen her ist sie ziemlich nett, aber im Unterricht merkt man das halt nicht so, da redet sie ja immer nur über Mathe, und hier spricht man halt über das, was man will. Hier lacht sie auch mehr. Sie hilft einem, dann wenn man Hilfe braucht. Und sie ist auch neumodisch. Die neuen Lehrer haben ja ganz andere Fähigkeiten, mit den Kindern umzugehen. Und sie hat auch viel mehr Wissen über Hightech und versteht viel mehr von Computern als viele andere Lehrer. Sie ist nicht so alt und verrostet. Die hat ja ganz anders das Lehrersein studiert. Sie weiß anders mit den Kindern umzugehen: nicht gleich loszuschimpfen, wenn man einmal die Hausaufgaben nicht geschafft hat, sondern nochmal die Fehler zu überdenken. Wenn man ein paar Jahre Lehrer ist, dann wird man irgendwie abgenudelter, verrosteter und so, und das ist eben bei ihr nocht nicht so fortgeschritten. -- Wenn man jünger ist, erinert man sich, glaub ich, etwas mehr an die Kindheit. Weil man fand das ja auch nicht so gut, wenn man angemeckert wird oder so. -- Im Unterricht kommt sie auch nicht so oft, wenn man Hilfe braucht, weil da mehr Leute sind, und hier, da spricht sie irgendwie offener und netter. Andere Lehrer erzählen uns oft, wie schwer es halt früher war und – das interessiert eben nicht so.“

„Schüler wollen Menschen kennenlernen“ zitiert Reinhard Kahl im GEO-Wissensheft Dieter Lenzen von der FU Berlin (1999: 116) in einem Gespräch über „Dritte“ an den Schulen. In den Arbeitsgruppen lernen sie Lehrkräfte offensichtlich eher „als Menschen“ kennen als sie es von der Schule gewohnt sind. Statt der Berufsrolle tritt die Persönlichkeit in den Vordergrund. Aus Lehrkräften werden „ganz normale“, zuweilen sogar sehr sympathische Menschen."

(–> Forschend-entwickelnder Unterricht heißt: anders in Beziehung gehen.)

 

(Die kurzen Fazits zum –> forschend-entdeckenden Unterricht stammen nicht aus der Broschüre.)