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Mal ganz ehrlich: Lügen Sie? – Vom individuellen Wert der Ehrlichkeit und von der Sicht der Lügner

von Dorle Weyers

Wie halten Sie es mit der Wahrheit? Ist sie für Sie ein essentielles Gut? Oder denken Sie, dass sie oft vermeidenswert ist, da Ehrlichkeit viel verletzender sein kann als manch charmante Lüge? Sind Lügen für Sie ein pragmatisches Mittel zur Konfliktlösung oder der beste Weg, um Beziehungen zu zerstören? Ist Ehrlichkeit in wichtigen Dingen und Beziehungen für Sie Pflicht oder Kür?

Warum lügen Menschen?

Ehrlichkeit ist in vielen Kulturen ein hoher Wert, ja sogar die Norm. Lügen hingegen gelten dort in der Regel als verwerflich. Dennoch lügen angeblich ja alle Menschen unglaublich oft. Zum großen Teil nutzen sie dann sogenannte 'weiße', also soziale Lügen, die das Zusammenleben fördern sollen: zum Beispiel indem sie taktvoll Distanz halten, Trost oder Freude spenden ("Bald ist alles wieder gut." bzw. "Du siehst 20 Jahre jünger aus."). Denen gegenüber stehen die selbstbezogenen Lügen. Sie sollen anderen Menschen einen falschen Glauben suggerieren, um uns selbst Vorteile zu verschaffen – von A wie Anerkennung jeder Art über den besseren Job oder schlichten Seelenfrieden durch Ruhe vor wissbegierigen Mitmenschen bis zu Z wie Zuneigung oder Zugehörigkeit. (Das alles geht übrigens auch völlig wortlos, nämlich durch Verschweigen.) Und natürlich wird auch aus Angst oder Scham oftmals gelogen. Der Wunsch nach einer weißen Weste oder die Sehnsucht nach Unfehlbarkeit können hier eine ebenso große Rolle spielen wie tatsächlich zu befürchtende Konsequenzen.

Dennoch gibt es auch in Sachen Lügen und Ehrlichkeit reichlich individuelle Unterschiede: Von den Menschen, die sich sehr stark der Wahrheit verpflichtet fühlen, bis hin zu solchen, die es mit ihr nicht allzu genau nehmen. Dazwischen liegt ein weites Spektrum von Menschen die je nach Situation mal mehr, mal weniger ehrlich sind.

Alles Lüge?

Zwecks dem ein oder anderen Eigennnutz wird mal geschleimt und mal geschwiegen, mal gnadenlos über- oder untertrieben, mal drastisch dramatisiert oder schamlos beschönigt – aber eben auch gezielt verharmlost, verdreht oder 'alternative Fakten' frei erfunden. Besonders gern werden nicht vorhandene Fähigkeiten oder Fleiß vorgetäuscht, Lebenslügen gedeckt oder fremde Leistungen als eigene präsentiert. Zu Letzterem zählen dann auch die zahllosen kleinen und großen Urheberrechtsverletzungen in Internet und Print-Produkten, die bekanntlich auch in der Wissenschaft viel verbreiteter sind, als deren ehrenhafte Anmutung uns glauben ließ, ... bis diverse Politiker:innen uns eines Besseren belehrten.
Was von alledem, erscheint Ihnen verlogen? Oder ist es einfach nur leicht gemogelt, geschummelt oder gar sprachlich optimiert?

Wenn Ehrlichkeit auf Lügen trifft

Haben nun ausgerechnet zwei in Sachen 'Ehrlichkeit' sehr verschiedene Leute eine enge berufliche oder private Beziehung zueinander, kann es für die 'Freunde der Wahrheit' schmerzhaft werden. Für sie gilt in der Regel: „Wenn du mir etwas sagst, dann muss es ja stimmen. Dein Wort anzuzweifeln hieße: dir eine Lüge zuzutrauen. Das geht nicht, denn Lügen ist unfair und Tabu.“ – Menschen für die Ehrlichkeit ein hoher Wert ist, gehen oft davon aus, dass andere Leute diesen Wert 'natürlich' teilen. Für sie ist dann schwer vorstellbar, in wichtigen Dingen von nahestehenden Menschen wie Kolleginnen oder gar Partnern angelogen zu werden.

Gilt das auch für Sie? … und dennoch haben Sie manchmal Zweifel, ob das, was Ihr Mann, Ihre Freundin oder der Kollege da erzählt, tatsächlich stimmt? Kennen Sie diese Verwirrung von „Das kann doch eigentlich gar nicht sein. Aber dass du lügst, kann ja auch nicht sein. Was ist denn nun wahr? Spinne ich?“

Einsichten in Lügner-Perspektiven

Wenn es Ihnen so geht, kann das Buch 'Sommerlügen' von Bernhard Schlink Ihrer Vorstellungskraft hier eindrucksvoll auf die Sprünge helfen. Schlink gibt darin quasi eine literarische Einführung in die Perspektiven von Menschen, die sich und/oder andere belügen (Zürich 2010): In der Geschichte 'Die Nacht in Baden-Baden' erzählt Schlink beispielsweise aus der Sicht eines Mannes, der seine langjährige Freundin mit einer bestechenden Mischung aus Naivität, Liebe und Egoismus belügt. Schlink schildert die Konfliktscheu und die Abwehrmechanismen des Protagonisten. Seine Freundin leidet, da sie weiß, dass sie nicht weiß, woran sie ist. Beide wissen aber, dass sie die Wahrheit 'braucht', da ihr Vater selten ehrlich war. Sie kämpft um Klarheit, und um diese zu erlangen, beginnt sie, den Freund zu kontrollieren und nachzuforschen, zu 'spionieren'. – Eine Geschichte also, wie sie in vielen Schlafzimmern spielt und oft in der Paartherapie erzählt wird.

Verletzende Wahrheit oder verletzende Lügen?

„Wenn du der Wahrheit begegnest und sie quälend findest, ist nicht sie es, die dich quält, sondern das, wovon sie die Wahrheit ist.“ (:82) lässt Schlink die Freundin sagen. Wie viele Menschen, die häufiger lügen, versteht auch der Mann in der Geschichte dies nicht. Die (trotz Leugnung geahnte) Untreue des Partners verletzt die Freundin; nicht die Tatsache, dass die Wahrheit ausgesprochen wird. Im Gegenteil: Eine Außenbeziehung z. B. kann sehr verletzen und das Vertrauen zum Partner gefährden. Jahrelang diesbezüglich belogen zu werden, ist für die Betroffenen jedoch oft viel gravierender. Es gefährdet ihr Vertrauen auf mehreren Ebenen: in den Partner, in die eigene Wahrnehmung, manchmal in enge Beziehungen generell und in ihre Biografie, also die bisherige (identitätsstiftende) Sicht auf das eigene Leben. Was bleibt ist dann nicht nur die Frage: 'Woher soll ich wissen, dass du mir jetzt die Wahrheit sagst?' Sondern auch 'Was von allem, was ich bislang glaubte, ist denn wahr? Eigentlich könnte vieles Lüge gewesen sein.'

Schonende und hilfreiche Lügen?

Sind Sie schon ganz genervt von diesem 'Wahrheitswahn', da ebenfalls überzeugter Gelegenheitslügner? So drastisch würden Sie das nicht sagen, aber Sie sehen das pragmatisch und reden sich schon mal mit Halb- oder Unwahrheiten heraus, wenn es eng wird? Finden Sie, dass Notlügen im Berufs- und Privatleben eine gute Strategie zur Vermeidung von Konflikten und Verletzungen sind? Sind die Grenzen zwischen sozialen und selbstbezogenen Lügen für Sie allzu fließend? Waren Sie beruflich bislang eigentlich ganz erfolgreich mit der Strategie, sich gerne galant herauszureden und Ihre Erfindungsgabe zum eigenen Nutzen zu pflegen? Schon Shakespeare schrieb ja in seinem Wintermärchen: „Sag mir keine Lügen; das schickt sich nur für Handelsleute“. Denken Sie öfter 'Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß'? Möchten Sie andere Menschen mit einer geschönten Wirklichkeit schonen?

Oder sind Sie sogar der Ansicht, wer sich belügen lässt sei selbst schuld? Frei nach dem Motto, 'it takes two to tango' und überzeugt davon, dass Lügen durch Mimik und Körpersprache klar erkennbar sind, wenn man nur genau genug hinschaut? (Die hierfür meist genannten Signale wie Blinzeln, Wegsehen, Nase-Kratzen oder Arme-Verschränken können übrigens ebensogut Stress signalisieren.)

Unterschiedliche Werte: persönliche Risiken und Nebenwirkungen

Legen beide Seiten keinen allzu großen Wert auf Ehrlichkeit, mag all das vielleicht gut klappen. Das muss es allerdings nicht, da 'selbst lügen' und 'belogen werden' sich natürlich sehr unterschiedlich anfühlen. Haben wir es aber mit Menschen zu tun, für die Ehrlichkeit ein hoher Wert ist, so gefährden schon kleinere Notlügen bestehendes Vertrauen – also das Fundament beruflicher und privater Beziehungen. Nicht umsonst sagt der Volksmund ja: "Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, wenn er auch die Wahrheit spricht." Die negativen Effekte beginnen oft auch nicht erst, wenn die Wahrheit herauskommt, sondern schon mit dem 'komischen Gefühl', also mit der Ahnung, dass etwas nicht stimmt. Mit drastischen Lügen riskieren Sie schließlich komplett Ihre Beziehungen, das Wohlbefinden der Anderen und den eigenen Ruf.

Auch wenn es bei manchen Psycholog:innen zurzeit beliebt ist, Lügen als 'menschlich, praktisch, gut' aufzuwerten und sich über vermeintlichen 'Wahrheitsterror' zu amüsieren: In nahen Beziehungen häufig belogen zu werden, kann psychisch krank machen. Denn die Verwirrung zwischen 'da stimmt doch was nicht' und 'du sagst ja, da ist nichts' lässt oft genug an der eigenen Wahrnehmung (ver-)zweifeln. Lüge für Lüge erscheint die Welt dann weniger verstehbar. Und gerade die Überzeugung, die eigene Welt verstehen zu können, ist gemäß 'Salutogenese' der fundamentalste Pfeiler für seelische Gesundheit. Was das amerikanische Paartherapeuten-Paar John und Julie Gottman bezüglich Seitensprüngen schreibt, gilt oft auch für Unehrlichkeit: „It's really not worth it and it's damn hard to repair.“ Und Simone de Beauvoir meinte gar: „Die hinterhältigste Lüge ist die Auslassung.“

Akzeptieren, dass nicht alle Menschen meine Werte teilen

Sind (gravierende) Lügen in nahen Beziehungen für Sie absolut Tabu? Würde die Ahnung, in einer nahen Beziehung vielleicht belogen zu werden, auch Sie 'wahnsinnig' machen? Dann bieten Bernhard Schlinks 'Sommerlügen' Ihnen eine echte 'Diversity'-Weiterbildung zum Thema 'Wahrheit als individueller Wert': Sie vermitteln überzeugten Ehrlichkeitsfreund:innen eindrucksvolle Einblicke in die Sicht von Menschen, die in Sachen 'Lüge & Ehrlichkeit' ganz anders ticken.

Thaddäus Troll kam der Wahrheit vermutlich sehr nahe, als er schrieb: "Die Sprache ist das Transportmittel für a) Informationen, b) Lügen, c) Poesie; die Grenzen zwischen diesen Begriffen sind bisweilen durchlässig, besonders zwischen a) und b) im Geschäftsleben und in der Politik. 
(Aus: Über die Schwierigkeit, Schrift zu stellen. Sprachspielerische Gedanken von Thaddäus Troll, 1940-1980, Quelle: http://www.thaddaeus-troll.de/tt-leseproben.html#). Erstaunlich, dass er hier nicht auch die Sexualität erwähnte.

Akzeptieren, wenn es wirklich mehr als 1 Wahrheit gibt

Neben den unterschiedlichen Lügen (bzw. wissentlich geäußerten Unwahrheiten), gibt es eben oft tatsächlich unterschiedliche, sehr persönliche Sichtweisen. Und diese können mitunter völlig verschiedene Realitäts-Bilder ergeben. Da unsere Gehirne sehr eigenwillig funktionieren und wir zugleich vieles aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten, werden Wahrnehmung und Erinnerung stets individuell gefiltert. Daher ist (leider) auch unser Bild der Wirklichkeit zwangsläufig meist sehr subjektiv geprägt.

Theoretisch ist das leicht gesagt. Es im Alltag auszuhalten und einen konstruktiven Umgang damit zu finden, kann zuweilen eine Kunst sein. Manchmal allerdings eine notwendige, denn: „Beim Streit um die Wahrheit, bleibt der Streit oft die einzige Wahrheit" (R. Tagore). Noch größer ist daher vermutlich die Kunst zu unterscheiden, wann es richtig / wichtig ist, die subjektiven Wirklichkeiten nebeneinander stehen zu lassen, und wann es an der Zeit ist, mit dem Lügen und Lügen-Lassen aufzuräumen.

 

Möchten Sie das Vertrauen zueinander und in Ihre berufliche oder private Beziehung wieder aufbauen? Dann unterstütze ich Sie gern mit einer Paartherapie in Münster oder online oder mit einer beruflichen Konfliktberatung in Münster.

 

Weiterlesen?

 

Die reine Wahrheit über Bürolügen verrät übrigens das Manager-Magazin :-).

"Der Mensch ist ein schlechter Lügendetektor" Interview von Ute Welty mit dem Psychologen Simon Schindler

 

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